Auf dem Weg der Heilung

Claudiusstraße 3, 10557

Unsere erste Begegnung fand im Juni 2023 statt. Während sie ihre Praxis ein letztes Mal aufräumte, erklärte sie stolz: „Dieses Gebäude ist eines der wenigen, das im Krieg nicht bombardiert wurde! Wir Chines:innen glauben an Feng Shui, und das Feng Shui dieses Gebäudes muss sehr gut gewesen sein, dass es der Zerstörung entgangen ist. Ich glaube, dass die Menschen, die hier leben, auch sehr glücklich sein können. Für mich persönlich ist dieser Ort ein wahrer Feng Shui-Schatz. Ich arbeite seit über dreißig Jahren hier und habe mich immer beschützt und unglaublich glücklich gefühlt.“

Die Claudiusstraße 3 liegt in einer ruhigen Straße, umgeben von anderen alten  Gebäuden, die den Krieg wie durch ein Wunder überstanden haben. Mit seiner roten  Backsteinfassade, den dekorativen Bögen und den hohen, schmalen Fenstern  spiegelt das Gebäude den eleganten Baustil des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts wieder. Zugleich fügt es sich harmonisch in die neuere Bebauung ein,  die hier in den letzten Jahren entstanden ist.  

Auch in der Akupunkturpraxis, die hier bis 2023 betrieben wurde, wirkt die alte Kunst der chinesischen Medizin in moderner westlicher Umgebung natürlich und ausgewogen: ich erlebe die Atmosphäre als ein nahtloses Nebeneinander von Vergangenheit und Moderne.

Dieser Ort war das Heilreich der Dr. Wu. Viele Menschen, die lange unter  Schmerzen litten, erfuhren hier Linderung. „Ich habe mit 14 Jahren als Krankenschwester angefangen und bin seit 50 Jahren im  medizinischen Bereich tätig. Ich liebe diese Arbeit sehr”, erzählt Dr. Wu. Ihre  Teenagerjahre fielen mit Chinas Kulturrevolution zusammen, einer Zeit des  chaotischen Umbruchs. Obwohl auch Dr. Wu die dramatische Unordnung und  Zerstörung selbst erlebte, hielt sie das nicht davon ab, sich eine medizinische  Karriere aufzubauen. Auch nach der Kulturrevolution setzte sie ihren Weg  konsequent fort und legte damit den Grundstein für ihre spätere medizinische  Tätigkeit in Deutschland, die ihr dann niemand mehr nehmen konnte. 

Als China sich zu öffnen begann, ergriff Dr. Wu die Gelegenheit für eine Ausbildung  im Ausland und kam allein nach West-Berlin, in eine Stadt, die durch die Mauer  geteilt war. Dort lernte sie das Medizinsystem kennen und passte ihre Arbeit daran  an, während sie an der Universität Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)  unterrichtete. Trotz der sprachlichen und kulturellen Herausforderungen konnte Dr.  Wu dank ihrer fundierten Akupunkturkenntnisse unzählige Menschen heilen und das  Vertrauen von Patient:innen und Kolleg:innen gewinnen. „Viele Familien kommen  seit Generationen zur Behandlung hierher", sagt sie lächelnd.

1989 brachte der Fall der Berliner Mauer Hoffnung und Veränderung. Dr. Wu erlebte die Wiedervereinigung von Ost- und West-Berlin hautnah und entschloss sich zeitgleich, ihre eigene Praxis im Hansaviertel zu eröffnen. Hier verband sie TCM mit westlicher Heilmethoden verband und bemerkte dabei: „Die Menschen, die zur traditionellen chinesischen Medizin kommen, tun dies oft, nachdem sie alle Möglichkeiten der westlichen Medizin ausgeschöpft haben. Dieser Ort wird zu ihrer letzten Hoffnung.“

Dr. Wus Klinik und ihr sanftes Wesen zog nicht nur viele Patient:innen an, sondern führte auch zur Gründung einer Akupunkturschule, in der sie ihr Wissen an westliche Praktiker:innen weitergab.

Die Geschichte von Dr. Wu ist durchzogen von historischen Turbulenzen, von der  Kulturrevolution in China bis zur Wiedervereinigung Berlins. Ihr Lebensweg, der von  gesellschaftlichen Wandel und unerschütterlicher Hingabe an ihre medizinische  Praxis geprägt ist, veranschaulicht nicht nur ihre persönliche Belastbarkeit, sondern  auch die Kraft der kulturellen Durchmischung, denn in gewisser Weise  durchdrangen Dr. Wus Akupunkturnadeln immer wieder die Barrieren von Grenzen  und Geschichte. 

Nach mehr als 30 Jahren ihrer interkulturellen medizinischen Tätigkeit in Berlin hat  Dr. Wu beschlossen, in den Ruhestand zu gehen, als der Mietvertrag für ihre Klinik  im Juli 2023 auslief. Nun plant sie zu reisen und Memoiren über ihr  außergewöhnliches Leben zu schreiben.